Dem Wörterbuch nach ist „Balagan“ ein hebräischer Slang-Begriff, der Chaos, ein Durcheinander und Unordnung beschreibt. Der Sprach- und Wortforscher Dr. Ruvik Rosenthal erzählt über die Verwandlung des Wortes, das wahrlich im hebräischen Wortgebrauch oft vorkommt, aber eigentlich ein international-europäisches Wort ist. Ursprünglich wurde es im antiken Persien verwendet, von dort aus wanderte es in den Norden, nach Russland und in die ost-europäischen Länder. „Balagan“ – ein Synonym für Lager oder Dachboden, sogar die Bezeichnung für das Commedia-dell ́arte-Theater in Osteuropa. Das Wort „Balagan“ erreichte die hebräische Sprache mit der russisch- polnischen Einwanderung mit Beginn des Zionismus im Land Israel.
Als Adjektiv wird das Wort „Balagan“ als das Passende zur Beschreibung von Unordnung und Chaos als Ergebnis eines Neubeginns, wie das biblische Tohuwabohu, verwendet.
Die Eröffnungsausstellung in der neuen Nir-Altman-Galerie zeichnet sich durch Unruhe, Zerstreuung von Ideen, Medien, Behauptungen und Erläuterungen, aus – augenscheinlich von Balagan. Die Luft ist durch die Kollision des weißen Raums mit den wie Bühnenutensilien einer avantgardistischen Theatervorstellung verstreuten Kunstgegenständen spannungsgeladen. Das in den Ausstellungsraum eintretende Publikum wird gebeten, seinen Atem zu beruhigen und sich dem Ausstellungsrhythmus zu fügen. Die innere Atmosphäre der Ausstellung, die sich durch ihren Namen ausdrückt, entstammt ebenfalls dem Erlebnis des europäischen bzw. westlichen Touristen im Mittleren Osten. Die Eindrücke des Lärms, des Hupens, der sengenden Sonne, des blendenden Lichts und der strahlenden Vielfarbigkeit – dies alles beinahe eindimensional und flach– vermitteln ein physisches Erlebnis am Rande des Schreckens. Doch in all dem Balagan birgt sich auch Ordnung. Es gibt Organisation, logisches Verständnis und Entwicklung, die augenscheinlich willkürlich erscheinen, jedoch eine wichtige Rolle im Aufbau des Universums einnehmen. Auch Balagan ist Ordnung, nur ein wenig anders.
An der Ausstellung nehmen fünf Künstler teil. Drei Israelis und ein Künstlerpaar aus Glasgow, Schottland. Allesamt junge Künstler, die sich jedoch bereits sowohl in ihren Ländern als auch auswärts bewährt haben. Sie sind in globalen sowie in finanziellen bzw. kommerziellen Bereichen der Kunst tätig.
Vered Aharonovich kombiniert im Inneren ihrer Werke eine gleichzeitig naive wie düstere Welt.
In fast all ihren Skulpturen der vergangenen Jahre taucht die Figur eines „Helden“-Mädchens auf. Dieses einerseits naive und unbewusste doch andererseits starke und selbstbewusste Mädchen, dessen Blick manchmal eindringlich, manchmal nach innen gerichtet ist. Sein Abbild scheint einer Szene mit vielen Darstellern und Aktivitäten entnommen, doch für einen Moment wurde es verpflanzt und entfernt und wir, die Betrachter sehen seine Taten ohne Bezug, ohne Verständnis und Relation. Wir bleiben bedeutungslos für die Taten und für die Geschichte der Heldin. Hier findet sich kein Anfang und kein Ende. Es gibt nur die Momente, die Aharonovich ausgewählt hat, um sie uns vorzustellen. Die Szenen wurden teilweise aus Kindheitserinnerungen der Künstlerin entnommen, schließen jedoch auch universelle Lebensgeschichten des Menschen als solchen, Volksmärchen, Folklore und Kunstgeschichte ein. In der hiesigen Ausstellung treffen wir zwei Figuren. Eine trägt kindliche Kleidung, ein zweiter Blick verrät aber, dass sich das Mädchen in eine Art Soldatin verkleidet hat. Sein Gesicht ist mit Militärtarnfarben bedeckt und es ist kampfbereit. Auf der Brust trägt es Kampfabzeichen, auf der Schulter Offiziersdienstabzeichen. Jugend und Erwachsensein, Lebensbeginn und Lebensgefahr, Aktualität, Lokalpolitik (in Bezug auf die Künstlerin) und universelle Politik werden in das Werk der Künstlerin integriert.
Eine zweite Figur, fast nackt, stellt ein Mädchen dar, das seine Augen dem Nächstbesten aushändigt. Sie sagt „You can have them“. In dieser Skulptur wurde der Begriff der Blindheit in der Kunstgeschichte mit der Geschichte von Tatiana der Märtyrerin (Tatiana of Rom) verflochten. Dies könnte eine Metapher für und eine eindringliche Kritik der Situation eines Landes, einer Nation, einer Menschheit sein. Die Aquarellzeichnungen von Roy Mordechay zeugen von hoher Sensibilität, beinahe am Rande der Explosion. Es liegt eine überhöhte Spannung in der Weise, wie Mordechai malt. Die strikte Einhaltung der Form und des Gleichgewichts der Flecken sind Ausdruck hiervon. Innerhalb dieses Systems lässt Mordechai Fantasiewelten entstehen, die Elemente, wie aus Kinderkriegsspielen entnommen, verwenden. Trotz des Eindrucks der Zeichnungen, als wären sie „Rorschach-Tintenkleckstests“, bewahren sie weiterhin den besonderen Charakter der sehr konkreten und einzigartigen Darstellungswelt von Mordechai − eine zur Faust geschlossene Hand, ein Flugzeug, ein Messer usw. Im Vergleich zu diesen Zeichnungen, die fast eine skulpturelle Gestalt annehmen, stehen die ausgestellten Werke von Hadas Levi. Levis Gemälde werden wegen der Art, wie sie geheime Elemente aus dem Inneren des gemalten Objektes offenlegt, mit den Werken des frühen Lucian Freud verglichen. Weiterhin verwendet Levi Ironie und physiologische Anomalien, ähnlich wie in den Werken von Yue Minjun. Levi beschreibt normale Familienszenen, Liebes-, Bekanntschafts- oder Freundschaftsbeziehungen. Diese erhalten einen technisch hochstilisierten, manchmal übertriebenen Schliff, der die Gestalten fast grotesk wirken lässt. Levi verwendet die Assemblage-Technik auf Leinwand oder Papier. Es werden dabei Szenen auf einer Fläche dargestellt, die anscheinend voneinander getrennt sind, doch damit schaffen sie eine neue, fast apokalyptische Wirklichkeit. Diese Geisteshaltung − am Rande einer Krise, am Rande des Balagan −
findet auch beim Künstlerpaar Littlewhitehead Ausdruck. Die Werksvolumen von Littlewhitehead sind multimedial. Sie sind eine Kombination aus gepflegtem „Ready Made“, eine Assemblage von Materialien bis hin zur Verwendung von „neuen“ Objekten in der DADA-Sprache. Sie fordern die zeitgenössische Kunstsprache heraus, voller Ironie, Sarkasmus und Zynismus gegenüber der Welt der Kunst, der populären Kulturwelt und üben starke Kritik gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft aus. Ihre Werke haben etwas Zauberhaftes, zeugen von Handfertigkeit und Überraschungselement. Diese Merkmale zeigen sich gemeinsam mit Kritik und Ironie bei mehreren Objekte der Ausstellung, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben.
Ein angebrannter, verkohlter, vollständig geschwärzter Baumstamm liegt auf einem Regal, als wurde er von einem menschlichen Körper abgetrennt. Die Verwandlung des toten Baumstamms in ein Kunstwerk, das gar dekorativ anstimmt, wirft Fragen über die Ästhetik auf, die Leben auch an Stellen darstellt, wo Tod ist. Dieser Gedanke kommt im Werk „We think they must have souls“ extrem zum Ausdruck. Hier ist die Allegorie so konkret, dass das Werk in jedem von uns eine Reihe von aktuellen Erinnerungen wachruft. Diese Szene erzeugt einen Blickwinkel wie im Kino oder im Fernsehen, einen gaffenden Blick, wie bei einer Reality-Show. Dies ist die Art, wie wir einen an einen Stuhl geketteten, mit bedecktem Kopf auf dem Boden liegenden Menschen beobachten. Einerseits mit Neugierde, andererseits mit der Furcht, zu nah zu kommen. Ist dies ein echter Mensch? Sollte man ihm Hilfe anbieten? Ist es ein Ausstellungsstück? Dieses Werkt reiht sich in die Liste der modernen und zeitgenössischen Werke von Künstlern ein, die der modernen Gesellschaft mithilfe der Kunst einen durchdringenden und kritischen Spiegel vorhalten. Eine kranke, nach Gaffen und billigem Klatsch hungrige Gesellschaft, die den Anblick des Todes fast anbetet.
Die assoziativen Gedanken, welche die Anwesenheit dieses Werks hervorruft, beeinflussen die gesamte Ausstellung in absoluter Weise. Es sind Darstellungen der visuellen Medien, die uns täglich, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche überfluten. Auch ohne Kunst haben wir keine Möglichkeit, uns diesen Darstellungen und Welten zu entziehen, die durch diese rebellische Ausstellung einen visuellen Ausdruck erhalten. Die Ausstellung bezieht Stellung und will uns, die höflichen Betrachter, aufrütteln. Wir haben uns daran gewöhnt, passiv in der Betrachtung und im Kulturkonsum zu sein und haben vergessen, dass Kunst Welten zu verändern vermag. Sie kann Einfluss nehmen, erziehen und den Weg zu einer besseren Welt weisen. Diese Ausstellung versucht, den Balagan zu ordnen. Sie zeigt auf und gibt durch verschiedene künstlerische Aktivitäten Hinweise auf die Welt, in der wir leben. Sie verleiht uns Augen, um zu sehen und bittet uns eindringlich, Stellung zu nehmen.
Text: Liav Mizrahi